Predigt
Auch auf die Gefahr hin, dass meine Gedanken mit der Frage enden, mit der sie beginnen, stelle ich sie jetzt: „Was haben wir gesehen?“ Das ist allein schon deswegen wichtig, weil Gefahr besteht, dass uns, wenn wir heimgekommen sind, doch jemand fragt: „Und! Was habt ihr jetzt gesehen in dieser Woche?“ Also, was haben wir gesehen? – Weites Land, Windräder, bewegt oder regungslos, das Spiel der Wolken. Ja, und dann haben wir so viele Behälter gesehen, kostbare, edle Steine; wertvolle, geschliffene Gläser; einen aus Metall getriebenen Arm, in dem ein Finger des hl. Thomas steckte. Die meisten Behälter – sie waren leer. Dann gab es auch die großen Behälter, die Dome und Kirchen, geschaffen und gebaut eigentlich nur für die Begegnung der Menschen mit dem Geheimnis ihres Lebens, mit Gott, mit Jesus Christus. 40 Altäre, so haben wir gehört und viele davon beim Rundgang gesehen, enthielt allein schon der Dom zu Halberstadt. Christus sollte gegenwärtig werden in der winzig kleinen, weißen Hostie, und der Christ sollte sie empfangen voll Glauben, damit Christus selbst zu begegnen. Ja, dafür waren die großen Dome und Kirchen gedacht, dass sie Behältnisse seien für das Zusammenkommen von Gott und Mensch. Die kostbaren Reliquienbehälter, heutzutage weithin leer und aufbewahrt in einer hochgesicherten Schatzkammer, des hohen materiellen Wertes wegen, sie enthielten Knochen oder Gewandstücke, die Überreste von Heiligen. Die Menschen damals waren überzeugt, dass sie bei der Berührung dieser Reliquien etwas von der Kraft empfingen, aus der die Heiligen gelebt hatten. Gesehen haben wir, wie gesagt, kleine und große Behälter. Doch, was haben wir in ihnen oder mit ihnen eigentlich gesehen? –
Mir ist eingefallen eine Szene, als ich ein Bub war und – merkwürdig genug – in Altötting eine Kirchenführung mitmachte. Es war in der Tillygruft. Tilly, der Feldherr des Dreißigjährigen Krieges, der auch hier im heutigen Sachsen-Anhalt gekämpft hat, liegt in einem Metallsarg und ein in den Sargdeckel geschnittenes kleines Fenster gibt den Blick frei auf den Totenschädel des Grafen Tilly. Die Führerin erzählt: Napoleon war hier, und „er wollte Tilly sehen“. Genau so sagte sie. Man schnitt für ihn den Sarg auf und bis heute können wir „Tilly sehen“. Was heißt nun „Tilly sehen“? Zu sehen ist Gebein, Knochen, ein Schädel. Ist das Tilly? Man sagt halt so, dass „er es ist“. Aber es sind nur Knochen, die man sieht. Die Frage, was man sieht, wenn man etwas sieht, spitzt sich zu. –
Die Idee, die Inspiration, heute von dem zu reden, oder besser: nach dem zu fragen, was man sieht, habe ich dem heutigen Evangelium entnommen, das der Leseordnung nach dran ist. Da ist der König Herodes ganz durcheinander, er weiß nicht mehr aus noch ein, weil er von Jesus gehört hat. Johannes sei er, sagen die einen, von den Toten auferweckt; Elija sei erschienen, sagen andere; ein Prophet sei auferstanden, meinen wieder andere. Da gibt Herodes zu erkennen, wer er selber ist, was er für einer ist. Er sagt: „Johannes habe ich selbst köpfen lassen“. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich als Herr über Leben und Tod fühlt, dass er gewalttätig und selbstherrlich ist, und dass für ihn der tote Johannes tot ist; an eine Auferstehung denkt er nicht. Der so gebaute Herodes – ein Mann der Gewalt und des Unglaubens – fragt nun nach Jesus, wer der ist, „und er suchte, ihn zu sehen“. Wie könnte er Jesus sehen, den Mann des Erbarmens und der Treue?! Da führt so gesehen kein Weg hin. Er müsste, um Jesus zu sehen, sich ihm öffnen, ihm glauben, ihm vertrauen, ihn ihm das Leben erkennen. Der Ruf vor dem Evangelium lässt heute Jesus geradezu punktgenau im Hinblick auf die wenigen Verse des Evangeliums sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. So ist Jesus zu sehen, und so sieht ihn nur, wer an ihn glaubt. Davon aber ist Herodes weit entfernt. Er sieht folglich Jesus nicht als den, der er ist, so sehr er auch „suchte, ihn zu sehen“. Er sieht in ihm gewissermaßen nur den Behälter und nicht den Inhalt, das Reliquiar und nicht die Reliquie, den Hohen Dom und nicht das Gedächtnis Jesu in der Feier der hl. Messe, er sieht – wie sein ihm geistig Verwandter Napoleon, der nur den Totenschädel des Tilly gesehen hat, aber nicht diesen selbst – er sieht nur den, über den er „solche Dinge“ hört, aber nicht Jesus den Heiland, den Retter, den Erlöser. –
Wer der Wahrheit und der Liebe auf der Spur ist, der ruht nicht eher, bis er sie selber sieht. Das drückt treffend aus ein Vers der heutigen Lesung aus Kohelet: „Nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll“. Wenn etwas voll ist, stimmt es. Wenn aber ein Mensch „voll“ ist? Dann ist er betrunken. Und satt sein? Wie viele Menschen wären es gern und sind es nicht! Sie hungern. Wenn wir aber sagen: Ich hab´s satt, dann meinen wir: Es steht mir über, es ist mir zu viel, ich mag nicht mehr. Wenn wir hingegen durch das weite Land fahren und den Eindruck haben: nie wird das Auge satt vom Sehen, dann heißt das ja, dass ich gerne bin, wo ich gerade bin, dass ich es gerade nicht satt habe, weil´s doch so schön ist, dass ich immer noch etwas sehen will, ja, dass mein Verlangen nach mehr nicht nur im zahlenmäßigen Sinn, sondern nach dem endgültigen, ganz befriedigenden Sehen geweckt wird. Wer immer satt, übersatt ist, den verlangt bald nicht mehr nach dem Essen, und die beste Speise zieht ihn nicht mehr an. Schade. Dass man aufhört, wenn´s am besten schmeckt und dass man sich dann doch wieder auf die Mahlzeit freut: diese Spannung auszuhalten gehört wohl zu einem erfüllten Leben, und macht das wesentliche Sehen aus: Dass man nicht „ab-sieht“ (altbayrisch – umgangssprachlich), dass man nicht meint: Jetzt hat man´s, dass man nicht „zu“, nicht „voll“ ist, sondern dass man es immer noch „auf etwas absieht“ =auf etwas aus ist und weiß, dass man das eigentliche Ziel nicht hat, sondern dahin unterwegs ist. Würde man einmal sagen: Jetzt bin ich satt, jetzt habe ich mich satt- gesehen, dann bedeutet das: Jetzt sehe ich mir nichts mehr heraus, und das heißt dann aber: Jetzt ist es aus. –
Schön ist es, dass wir so viel Schönes gesehen haben auf unserer Fahrt – und noch sehen werden. Es kann in uns die Sehnsucht wecken nach dem bleibenden und wirklich Schönen, nach der Wahrheit und der Liebe, nach dem Inhalt, an dem wir uns nicht sattsehen und nicht sattessen. In der Feier der Eucharistie schauen wir auf den Herrn selbst, gegenwärtig als Leib Christi in der Gestalt des Brotes. Er ist der Blickfang, und von ihm her erhält das, was wir heute und morgen sehen, seinen Rang und seine Einordnung. Von ihm her bestimmt sich, was sehenswert ist. Fragen wir also in einem Augenblick des Innehaltens: Was haben wir wirklich gesehen?
Ja.
Amen
Josef Fischer